Boulogne-sur-mer


Charles Aznavour singt aus vollem Herzen „La bohème“, und der Fischer zwischen Kabeljau und Loup de mer trällert lautstark mit. Die Szene auf dem Fischmarkt von Boulogne-sur-mer hat etwas Unwirkliches. Aber vor allem etwas Zauberhaftes. Wir sind hin und weg. Bei strahlendem Sonnenschein und knapp 15 Grad geniessen wir jede Minute des frühen Vormittags bei den Fischern und den Hausfrauen, die sehr genau zusehen, welche Fische das Personal gerade aussucht.

Der Fischereihafen von Boulogne-sur-Mer hat sich im Laufe der Jahre übrigens zu einem der bedeutendsten in Europa entwickelt. Nicht wegen der Hausfrauen, sondern wegen der mehr als 200 fischverarbeitenden Betriebe und Frankreichs grösster Fangflotte.

Vom Hafen zieht es uns weiter in die Stadt. Sonnabend ist Markttag, und wir sind mittendrin. Verkäuft werden unter vielem anderen gegrillte Hähnchen und Haxen, deren Fett gemütlich auf die darunter schmurgenden Kartöffelchen tröpfelt. An diesen Ständen sammeln sich lange Schlangen. Aber auch Obst und Gemüse, Käse und Charcuterie finden reissenden Absatz.

Leider sind die Sonnenplätze in den Cafés am Rande des Marktes vergeben, aber auch so geniessen wir die aufgedonnerten Französinnen mit ihren handtellergrossen Hündchen, die Kerle, die ihre Muskeln unter den Tattoos spielen lassen, und die Ömchen, die irgendwo ein paar Osterglocken gerupft haben, um sie nun auf dem Markt zu verkaufen.

Vieles aus dem Angebot stammt direkt aus Gärten und von umliegenden Höfen, anderes ist eher exotisch. Und alles ist wunderbar.

Boulogne-sur-mer kennt übrigens in Argentinien jedes Kind. Ende des 18. Jahrhunderts  war es José de San Martín, ein argentinischer General und Nationalheld, der eine Schlüsselrolle bei der Unabhängigkeit Argentiniens, Chiles und Perus von der spanischen Kolonialherrschaft spielte. Irgendwann erzürnten ihn die Südamerikaner und er zog sich nach Europa zurück. Die letzten beiden Jahre seines Lebens verbrachte er hier in unserem Ort am Ärmelkanal. Daran erinnert ein immenses Denkmal am Meer..

In der Kirche Saint Nicholas, in deren Schatten das Markttreiben stattfindet, wird seiner ebenfalls gedacht. Hier sammeln wir uns kurz, um dann vorbei am Nauticaa, dem größten Aquarium Europas mit über 58000 Tieren aus 1600 Arten Richtung Appartement zu laufen. Es ist Mittagszeit. Überall picknicken Familien, Paare oder Solisten in der Sonne, am Strand kampieren ein paar Pfadfinder. Vor allem aber heizen die Strandsegler mit atemberaubenden Geschwindigkeiten am Ufer entlang. Könnte leicht mal vor Freude ein Tränchen rollen…

Gefrühstückt wird spät zuhause mit Blick aufs Meer, Baguette, Pâté und Käse aus Savoyen. Und dann geht’s einen Moment an den Strand und in die Sonne. Bei Ebbe ist das Wasser jetzt in weiter Ferne, auf den Steinen am Ufer, die zum Teil gesprengte Bunker sind, tummeln sich Familien. Wir beobachten, wie ein vielleicht dreijähriges Mädchen krachend zwischen zwei Felsbrocken fällt. Die Mutter hebt kaum den Kopf: „Bist du ok?“ Kind schüttelt sich, zieht ganz kurz ein Schnute, nickt, krabbelt aus der Kuhle und spielt weiter.In Deutschland hätte es nicht nur geplärrt, Eltern und Beobachter wohl auch gleich nach einer Ambulanz gerufen. Die Gören hier sind tapfere, kleine Helden.

Das sind auch einige Mädchen, die tiktok-gestylt bauchfrei über die Promenade flanieren. Missachtend, dass die virtuellen Filter in der Realität nicht greifen. Überhaupt ist modisch hier einiges los. Overknee-Stiefel über mächtigen Schenkeln sind nur ein Beispiel. Ein anderes mittelmaschige Netzstrumpfhosen zum superkurzen Höschen und engem Tshirt, vorgetragen von einer relativ zierlichen Person in ihren Siebzigern.

Uns steht der SInn nach einem  Chardonnay mit Blick aufs Wasser, aber das wird nichts: Jeder Stuhl in den Cafés ist besetzt, es wird gelacht und geprostet. Weisswein haben wir aber auch zuhause – on y va mit einem Lächeln.

Heute Abend werden wir die Sonne vom Sofa aus im Meer versinken sehen, frische Tagliatelle und ein Sösschen kochen, dazu vielleicht noch einen Schluck Wein trinken.

„La bohème“ – es geht einem einfach nicht aus dem Kopf.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen