Dunkle Wolken über Krakau, nur 11 Grad. Das ist ja nun nicht so toll, hält uns aber keineswegs von unseren Plänen ab. Noch vor dem Frühstück gucken wir mal in die Karte, wo wir überhaupt genau sind und wohin wir wollen. Bald dürfte es mal Meer geben. Aber im Moment sind wir davon entfernt und sehr weit im Osten, nur knapp 250 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Nein! In die Ukraine fahren wir wirklich nicht.
Bus 173 bringt uns stattdessen wieder Richtung Altstadt, den Rest müssen wir laufen. Es beginnt schon zu regnen, als wir noch den Wawel mit dem Schloss immer entlang der Weichsel passieren und lange, bevor wir überhaupt in Kazimierz ankommen. Der Stadtteil ist – wie die gesamte Altstadt Krakaus – UNESCO Weltkulturerbe. Jetzt ist das alte jüdische Viertel unser Ziel, aber der herbe Regen schickt uns erst einmal wieder in eine christliche Kirche. Im Augustinerkloster und der dazu gehörenden Basilika wird gerade die Messe gelesen; wir hören still zu und sind wieder einmal davon beeindruckt, dass Vertreter aller Generationen hier inbrünstig beten. Natürlich gibt es die Ömchen mit ihren Kopftüchern, aber daneben knien ganz junge Mädchen mit kurzen Röcken und hohen Schuhen, Jungs mit Irokesen Cut neben Opis in Sandalen. Die bläuliche Bleiverglasung in den gotischen Bögen gaukelt uns vor, es würde draußen aufklaren – stimmt nicht. Es plattert munter weiter.
Uns fällt in den Gängen der Klosterkirche ein Schild ins Auge: Offenbar gibt es in den Gewölben ein Café. Tatsächlich! Zunächst zögern wir, weil wir annehmen, es handele sich um eine Armenspeisung, denn die Übersetzung des Schildes ist ein wenig irreführend („We invite you“). Durch schmale Gänge, die sicher interessante Geschichten zu erzählen hätten, landen wir in den Katakomben des Bauwerks aus dem 14. Jahrhundert. Ein ausgesprochen netter Mann verkauft nicht nur Kaffee und Tee, sondern zieht auch einen interessanten Prospekt nach dem anderen aus der Tasche. Er hat Deutsch studiert, zwei Söhne, die in Frankfurt und Magdeburg studieren, arbeitet selbst noch zwei Jahre in Linz in einem Chemiebetrieb. Nun hat er Urlaub, deshalb leitet er gerade das Café in der Abtei. Fröhlich rät er uns, bloß kein Geld bei der Western Union zu tauschen – schlechteste Kurse -, dafür lieber einen Kantor zu suchen. Wir revanchieren uns, indem wir vier Franzosen übersetzen, die Tee und Kaffee bestellen wollen, aber von unserem neuen Freund partout nicht verstanden werden. Irgendwie ja mutig, ohne eine weitere Sprache nach Polen zu kommen. Aber scheint ja zu klappen.
Wir wollen im Moment gar nichts tauschen, sondern weiter in jüdische Viertel, bekommen einen weiteren Tipp von unserem Gastgeber (die Salzgrotten) und bedanken uns natürlich herzlich.
Mit ein paar nützlichen Infos verlassen wir den netten Kerl und die Kirche. Inzwischen ist es fast trocken. Wir schlendern bald durch das ehemalige jüdische Viertel, suchen und finden den Flohmarkt auf der Plac Nowa, der aber gerade seine Zelte wieder abbricht (inkl. der gefälschten Chanelschuhe). Ein kurzer Besuch führt uns ins jüdische Museum „I Remember“, das allerdings zu voll ist, denn heute findet die Vernissage einer Chaim Goldberg-Ausstellung gegenüber der berühmten Temple Synagoge statt. Es ist hier die erste große Ausstellung des gebürtigen Krakauers, dessen Werke im MoMA in New York ebenso hängen wie im Smithsonian in Washington. Wir sehen ein paar Gemälde, die jüdische Shtetl vor dem zweiten Weltkrieg darstellen, dann suchen wir das Weite. Einfach zu voll. Wenig später finden wir uns in der ältesten Synagoge der Stadt wieder. Inzwischen ist sie ein Museum, das uns viel über die jüdische Geschichte Krakaus erzählt. Natürlich ist auch hier der Holocaust ein Thema. Die ehemalige Schindler-Fabrik ist ebenfalls nur einen Steinwurf entfernt. Aber man kann beim besten Willen nicht alles sehen. Den jüdischen Friedhof besuchen wir ebenso wenig wie wir den in Prag besucht haben: Eintritt für Kirchen und Friedhöfe zahlen wir nicht.
Den Beschluss, Auschwitz-Birkenau, das ungefähr 50 Kilometer westlich von hier liegt, nicht zu besuchen, haben wir schon vor unserer Ankunft gefasst. Wir wissen, was hier geschehen ist, aber werden dieses Wissen nicht durch Besuche in den ehemaligen KZs vertiefen. Werbung der Agenturen wie „Enjoy your trip to Auschwitz“ verstärken unseren Beschluss.
Wir laufen Kilometer um Kilometer weiter. Die Sonne zeigt sich endlich. Heute ist Kazimiersz vor allem ein Ausgehviertel. Viele Bars, günstige Restaurants und Boutiquen reihen sich aneinander. Wir bewegen uns später weiter Richtung Stadt und sind schon ziemlich müde, die Füße brennen und die Köpfe sind voll mit all den neuen Eindrücken. Vielleicht wagen wir deshalb auf dem Hauptplatz das Abenteuer und bestellen jeder für drei Euro pro Stück ein Bemme. Wir reden hier über eine ca. 25 cm lange, 10 cm breite und 1,5 cm dicke Scheibe Graubrot, die zunächst auf dem Grill geröstet und dann mit Schmalz bestrichen wird. Darauf landen dann nach Wahl: Hackfleisch, gebratene Würstchen, eingelegte Gurken, Paprika, Röstzwiebeln, Schafskäse. Alles, oder nur Teile davon… Wir nehmen Würstchen und Zwiebeln, schaffen aber nicht einmal die Hälfte.
Danach lechzen wir nach einem Bier, das es in einem der Strassencafés für uns gibt. Zum Glück fragen wir noch mal nach, als uns die Kellnerin nach groß oder klein fragt. Klein sind 0,4 Liter, groß eine Maß. Fassbier ist hier in Polen übrigens wirklich billig: den Liter gibt es für knapp 3,50 Euro, unseres für 1,50 pro Glas, denn wir nehmen zwei kleine, sitzen in der Sonne und erholen uns. Rundherum schließen die Museen – dann ist es eben so. Der Marktplatz, übrigens nach dem Markusplatz in Venedig der zweitgrößte Renaissance-Platz in Europa, ist wie ein riesiges Theater. Heute werden die unterschiedlichsten Stücke gegeben: Einige feiern ihre erste Kommunion, andere den Muttertag, dritte den Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, wieder andere nur sich selbst oder einfach das pralle Leben, das sich hier zwischen Kutschen und Segways, Kindern und Greisen, Geschichte und Zukunft abspielt. Wir haben lange nicht alles in Krakau gesehen, aber was wir gesehen haben, fanden wir großartig.