Pärnu – die andere Seite

Heute gibt es Stress. Wir ziehen um. Verlassen “Carolina” und wenden uns “Emmi” zu.  Vom Hafen in die Vorstadt. Von der Sauna – ja, wohin?

 

Von aussen sieht “Emmi” aus wie eine überdimensionierte, flach gelegte  Mutter aus dem Fischertechnik-Kasten. Im Inneren fällt die wuchtige Treppe auf, die die Stockwerke verbindet und auf besondere Art zusammenhält. Wir sind schon gegen zwölf an der Rezeption, aber hier macht aus so einem Grund kein Mensch Theater. Zimmer fertig = Schlüsselmoment.

 

Dass es keinen Fahrstuhl gibt in dieser renovierten Trutzburg, vergessen wir schnell: Die Plünnen müssen nur in den ersten Stock. Unser Zimmer ist ein Raumwunder! Lüftbar durch zwei große Fenster, hell, grosszügig, sogar mit einem englischsprachigen Programm aus Frankreich.

 

Das muss man ja alles genießen, deshalb tun wir erst einmal nichts. Im Konjunktiv gehen wir an den Strand, wandeln durch die Parks, entdecken unser neues, von Wohnblocks geprägtes Viertel. Im Indikativ lesen wir. Juan arbeitet an seinen youtube-Filmen. Genießen den Luxus des dolce far niente.

 

Irgendwann, hungrig, durchstreifen wir den „maxima“ Markt gegenüber, vergleichbar mit einem walmart. Einkaufen, im Hotelzimmer krümeln? Och, nö. Die einzige Alternative zu einem Hessburger-Laden ist ein Pub namens Hahn. Trotz der Lage an einer Hauptstraße ist der Biergarten lauschig. Kleine Schnabbelei, dann wieder zurück ins Hotel. Es ist mit 25 Grad warm und heute schwül. Am späteren Nachmittag Regen wie in den Tropen: intensiv, kurz.

 

Wie gut, dass wir es warm und trocken bei Emmi haben. So ein Tag ist ja schnell vertrödelt… Erst gegen halb zehn meldet sich de Magen. Aufraffen, los. Natürlich wieder ins Hahn, weil nah. Der Biergarten ist proppenvoll, aber wir haben Glück und finden einen letzten Tisch. Hier sind zwar auch ein paar Finnen, vor allem aber Einheimische. Englisch ist keine Voraussetzung für die Kellner, deshalb spricht es auch kaum jemand. 

 

Wir bestellen Pasta und Rotwein, einen körperwarmen Cabernet Sauvignon aus dem geheimnisvollen Land Tšiili, was aber nur estnisch für Chile ist. Weil der Wein unerträglich warm ist, besorge ich an der Theke Eiswürfel. Neben mir steht ein kompakter Mann um die 60, vielleicht 1,75 groß, Baseballmütze, Polo, Bermudas, blitzeblau.

 

Kaum haben wir unseren Chilenen mit Eiswürfeln gepanscht, steht der Blaue auch schon am Tisch und murmelt auf Estnisch irgendwas. Sorry… Davon lässt er sich nicht irritieren, setzt sich erst mal hin. Da der Laden voll ist, gibt es auch kaum eine Alternative.

Mich hat er sofort als Schwedin erkannt. Nee? Dänisch? Ach, deutsch: Redet mal was, hab ich zwei Jahre in der Schule gehabt… Um ihn loszuwerden, erkläre ich, dass wir untereinander nur spanisch sprechen. Wegen Argentinien. Nun kommt unser neuer Freund richtig in Fahrt. Letztes Jahr war er in Chile. Wegen der Sonneneclipse. Er sei nämlich Astronom und hiesse im übrigen Arno, sei 61 Jahre alt und habe schwere Zeiten hinter sich. Das alles in alkolholschwangerem Englisch. Zu zwölft waren sie in Chile gewesen. Die Atacama sei großartig gewesen, aber sonst? Nix zu sehen, immer nur dasselbe, Und 4000 Euro für 3,5 Minuten Eclipse.

 

Dirses Jahr wollte er eigentlich nach Argentinien. Aber Kohle und Corona – ihr wisst ja. Wir wissen alles. Lassen ihn weiterbehandeln, hören von seinem estnischen Nationalstolz und dass Angela Merkel keine Lust auf so kleine Länder hat. Irgendwann lullt uns das Gebrabbel so ein, dass wir uns verabschieden. Arno ist ganz traurig, so ohne uns. Guckt aber noch mal ganz versonnen, bevor sein Traum noch einmal aus dem Mund blubbert: „Argentina… eh! zo gutt! Copacabana…“ Äh – ach, was soll’s?

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