Bisher kannten wir Estlands Hauptstadt von Erzählungen nach einer Pressereise: niedlich, puschelig, interessant. Nach unserem gestrigen ersten Eindruck dachte ich: Aha. Pressereise. Charterflieger, Abholung Flugfeld mit Limousinen, check-in im 5-Sterne-plus-Hotel mit kaltem Champagner im Kübel, Stadtrundfahrt bei Nacht (macht aus jedem miesen Kaff was Besseres), lullendes 3-Sterne-Dinner und Wein, bis die Tränen kommen.
Das hat Tallinn nicht verdient, also weg mit solchen Gedanken. Auf dem Weg in den Kern der rund 1000 Jahre alten Stadt, die übrigens von Dänen gegründet wurde, zeigt sich das Bild schöner, hansischer Architektur. Wir laufen über uraltes Kopfsteinpflaster, schnacken mit Mägden in altertümlicher Kleidung, die uns charmant in ein mittelalterliches Restaurant locken wollen, probieren hervorragende gebrannte Mandeln und genießen die Altstadt. Das tun wir nicht allein: in der Hafenstadt, die lange Zeit Rewal hieß, sind viele Touristen unterwegs. Seit längerer Zeit hören wir auch erstmalig wieder deutsche Laute.
Enge Gassen, verspielter Jugendstil und viele, viele Bernstein-Läden bringen uns auf den großen Marktplatz. Klar könnten wir die 119 Treppen den Turm des Rathauses hochklettern. Tun wir aber nicht. Stattdessen scouten wir die zahlreichen Restaurants rund um den Markt. Pizza, Pasta, Giros. Uns wird etwas anderes einfallen.
Zunächst einmal hinauf auf den Berg zu einer der schönsten vorstellbaren orthodoxen Kirchen, der Alexander Newsky-Kathedrale. Genau dahinter residiert die deutsche Botschaft – kann nicht besser sein. Die Kirche mit ihren Ikonen ist bezaubernd schön. Wie in Russland wird auch hier inbrünstig von Jung und Alt gebetet.
Gegenüber dem Portal befindet sich das estnische Parlament, in den Gassen, die oft zu Aussichtsplattformen führen, viele Botschaften. Den Dom besichtigen wir nicht, weil wir niemals Eintritt in Kirchen bezahlen. Aber wir schlendern weiter. Irgendwo gibt es in der Sonne einen kühlen Apéro Spritz, bevor es weiter durch verschlungene Gassen geht. Die Geschichte weht hier durch jede Ritze: Dänen, Deutsche, Russen – alle wollten sie diesen natürlichen Hafen haben und lieferten sich wilde Gefechte. Besonders im 20. Jahrhundert gab es in Rewal/Tallinn nichts zu lachen. Zwar „befreiten“ die Nazis die Esten kurzfristig von den Russen, machten dieses Kapitel der Geschichte jedoch zu einem der grausamsten.
Wir kehren zurück ins Mittelalter, sehen uns Stadtmauern und Kaufmannshäuser an, lächeln über das modische Bewusstsein nicht nur junger Estinnen und die Aufschneider-Nummernschilder an den großen Kisten der Jungs: 911 DNA auf einem Porsche ist kaum zu toppen…
Nach einer Pause im Hotel, das es nicht hinkriegt, die Klimaanlage in den Griff zu bekommen, stürzen wir uns wieder in die Altstadt. „Dominic“ heißt das Restaurant, in dem wir – zu Hamburger Preisen – so gut essen wie bisher nirgendwo im Baltikum: Entenbrust und Kalbsleber nach geteilter Burrata mit abgezogenen Tomaten und frischem Pesto. Dazu selbstgebackenes Brot, hinterher geteiltes Eis, das leider etwas knistert. Aber es wird getoppt durch Dulce de leche. Mitten in der niedlichen, puscheligen, interessanten Altstadt von Tallinn!
Wäre ich hier die Pressetante, würde ich die Meute ins „Dominic“ laden. Bei dem hervorragenden Essen und der Weinkarte mit Sterne-Standard würde auch der letzte Kollege darüber hinwegsehen, dass vielleicht mal eine Klimaanlage klemmt.