Gestern Abend, beim ersten Schnuppergang durch die Altstadt von Hanoi, in der auch unser Golden Cyclo Hotel liegt, habe ich noch gedacht: Das Beste ist, du wirst einfach auf einer Straßenseite geboren, bist da glücklich und zufrieden und scherst dich nicht weiter um den wahnsinnigen Verkehr, die wie bekloppt hupenden Motorroller, die Autofahrer, denen ganz klar ist, dass sie stärker sind als du…
Heute Morgen, nach dem Frühstück, sieht die Welt schon ganz anders aus. Es sind noch wesentlich mehr Roller unterwegs und sie hupen noch lauter. Wie kommt man bloß von A nach B? Wir beobachten die Einheimischen: Sie gehen einfach langsam, aber beständig los und überqueren so die Straße. Die Rollerfahrer schätzen die Geschwindigkeit und weichen entsprechend aus. Oder nicht. Keineswegs darf man also plötzlich spurten oder gar stehen bleiben. Das ließe das gesamte System zusammenbrechen. Es gibt breite Straßen hier in Hanoi und ganz schmale. Wer allerdings glaubt, auf den Gässchen sei weniger los, hat sich geirrt. Also, Herz in die Hand und los. Klappt ganz gut, auch wenn der europäische Menschenverstand noch mal eben kurz an alle Lieben denkt, bevor er auf die Straße tritt… Ach so, eines muss man noch wissen: Auch in Hanoi haben Ampeln allenfalls eine Beratungsfunktion. Sie wird aber kaum wahrgenommen.
Wie alles auf Reisen ist auch der Verkehr nur ein Punkt, auf den man sich einfach einstellen muss. Wir schlendern erstmal durch die Stadt, können nicht fassen, was für Menschen und Bauten wir begegnen, sind schwerst begeistert von dem Lebensgefühl, das hier so durch die Straßen swingt. Natürlich ist der See zunächst einmal das Ziel. Halb so groß wie die Aussenalster ist er zentraler Punkt in der Altstadt. Der Hoan-Kiem-See oder Schwert-See ist Hanois berühmtester See und trennt Alt–Hanoi vom einstigen französischen Kolonialviertel.
Drumherum befinden sich in mehr oder minder erhaltenen französischen Kolonialbauten Banken, Restaurants, aber auch ganz einfache Läden. Trotz der knapp 6 Millionen Einwohner, die Hanoi haben soll, ist es hier keine Sekunde so voll wie in Peking, Shanghai oder Hangzhou. Alles geht gemächlicher vor sich, sieht man einmal von dem Verkehr ab. Häuser, die höher als sechs, acht Stockwerke sind, haben wir überhaupt noch nicht gesehen. Dafür schöne Tempelchen, hinreißende Wohnhäuser und spannendes Handwerk. Alle zwei Minuten hält eine Fahrradrikscha: „Cheap, very cheap“, aber wenn wir abwinken, ist auch alles ok. Etwas blöd sind die Stadtpläne der Hotels, die dich auf die großen Straßen beschränken. Entsprechend verlaufen wir uns auch ein bisschen im Gewirr der kleinen Straßen. Problem? Nö. Außerdem gibt es immer jemanden, der englisch spricht. Apropos: beliebtes modisches Accessoire scheint hier alles zu sein, auf dem US Army steht. Jeanshemden, Armyhosen, Helme, t-Shirts mit Ami-Slogans überall, unter denen „Good Morning, Vietnam“ natürlich 1a vertreten ist. Aber wir sind ja nicht zum kaufen, sondern zum gucken hier.
Wie wohl die meisten Touristen sind wir in Hanoi Millionäre. An einem ATM ziehen wir sagenhafte 2 Millionen Dong, doch tatsächlich sind das nur knapp über 70 Euro. Faustregel: 25000 Dong = 1 Euro. Wir essen im Paku, der Kneipe reines Neuseeländers, gebratenen Reis und kalte Fleisch-Gemüse-Röllchen, trinken dazu Tiger Beer und lassen die faszinierendsten Menschen an uns vorbeiziehen. Fotos können wir schon nicht mehr machen: beide Akkus sind komplett leer.
Nach einer kleinen Siesta werfen wir uns wieder ins Getöse. Man darf das nicht unterschätzen – es ist anstrengend, ständig auf der Hut sein zu müssen. Irgendwo nördlich vom See treffen wir dann auf ganz viele Westler (relativ, versteht sich). Offenbar hat es die alle an die günstigen Tröge gezogen. Und wir setzen uns auch auf die winzigen Stühlchen, bestellen ein paar Nudeln mit Beef und Huhn, Gemüse, Bier, zum Schluss zahlen wir dann für alles knapp sechs Euro. Auf dem Rückweg zum Hotel verlaufen wir uns kaum noch. Die Neuseeländer haben uns eine etwas bessere Karte gegeben, die wir auch brauchen, um uns zu orientieren. Da sich vieles ähnelt, kann es schon mal vorkommen, dass man in die exakt falsche Richtung geht. Aber schließlich klappt es ja dann doch. Trotz der Hektik, trotz der Hutze. Auch am Abend haben wir noch 30 Grad.
Zurück im Hotel lese ich, dass Patrick Modiano den Literaturnobelpreis erhalten hat. Den Herrn muss ich nun erstmal googeln. Hand aufs Herz: Wer kannte ihn bis zur Bekanntgabe?
Hanoi – solo con coraje